Warum Olaf Scholz nicht die ganze Wahrheit sagt

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  • Deutschland und die Taurus-Affäre : Warum Olaf Scholz nicht die ganze Wahrheit sagt
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    L’Allemagne et la France sont en guerre contre la Russie. Il faudrait enfin le faire comprendre à tout le monde. On l’évite car les conséquences seraient désastreuses pour les politiciens du gouvernement et les autres va-t-en guerre.

    8.3.2024 von Klaus Bachmann - Der Abhörskandal ist für den Bundeskanzler unangenehm. Dabei wäre es an der Zeit, den Deutschen reinen Wein einzuschenken, mit Blick auf den Ukraine-Krieg. Ein Gastbeitrag.

    Diese Geschichte endet, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Sie fand statt im Sommer 2017, während des Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich, kurz nachdem massive, zum Teil von Russland gesteuerte Hackerangriffe und Schmähkampagnen in den USA Hillary Clintons Wahlkampf durcheinandergebracht und Donald Trump geholfen haben, an die Macht zu kommen.

    Macrons Wahlkampfteam ist gewarnt – im fernen Osten sind tausende falscher Twitter- und Facebook-Konten entstanden, es gab Phishing-Angriffe auf das Wahlkampfteam und Fake-News Kampagnen über Macrons angebliche Offshore-Konten.

    Macrons Wahlkämpfer entschließen sich zu einem ungewöhnlichen Schritt – sie füttern das Monster, das dabei ist, sie anzugreifen. Sie füttern es mit vergiftetem Futter, mit gefälschten Dokumenten, erfundenen Nachrichten über sich selbst. Gefälschte Dokumente und Nachrichten über Dritte zu verbreiten, ist gefährlich – man riskiert dann Zivilklagen wegen Verleumdung und Schadenersatz. Aber über sich selbst die Unwahrheit zu verbreiten, ist legal, solange man damit niemanden betrügt. Kurz vor dem Wahltermin platzt die Bombe – russische Hacker leaken tausende Geheimdokumente, die sie angeblich von Macrons Wahlkampfteam erbeutet haben. Eine Katastrophe von geradezu Clintonschen Ausmaßen: statt die Wahl zu gewinnen, werden sich Macron und sein Team nun wochenlang gegen diese Kampagne verteidigen müssen.

    Denn statt sich zu wehren, zu dementieren und neun Gigabyte an Datenleaks zu kommentieren, gibt Macrons Wahlkampfchef Mounir Mahjoubi nur bekannt, die Leaks enthielten echte und falsche Infos, darunter solche, die sein Team den Hackern selbst geliefert hätten. Die französische Wahlbehörde warnt Medien, die Weiterverbreitung dieser Daten könne erhebliche straf- und zivilrechtliche Konsequenzen haben. Niemand weiß jetzt mehr, was von dem Material, das auch Wikileaks ins Netz wirft und das von Rechtsradikalen in Frankreich und den USA weiterverbreitet wird, tatsächlich echt und glaubwürdig ist. Der russische Angriff, der darauf zielt, die Rechtsradikale Marianne Le Pen ins Amt zu hieven, scheitert grandios. Macron gewinnt die Wahl und wird Präsident.

    Wie Macron die Wahl gewann

    Sie werden als die Betrogenen dastehen, als unfähig, ratlos und hilflos gegenüber den Beschuldigungen, die ihre Wahlkampfgegner und die Medien aus den geleakten Dokumenten konstruieren können. So war es in den USA gewesen. In den USA sind manche Clinton-Anhänger bis heute damit beschäftigt, ihre Kandidatin gegen den (erfundenen und damals verbreiteten) Vorwurf zu verteidigen, sie habe in einer Pizzeria kleine Kinder an Pädophile verkauft. Aber dieses Mal kommt alles ganz anders.

    Von Macron mit Leaks umgehen lernen

    Und jetzt stellen wir uns einmal einen Moment lang vor, Verteidigungsminister Boris Pistorius, Bundeskanzler Olaf Scholz und die bei der jüngsten russischen Abhöraktion über die Taurus-Besprechung Anwesenden hätten Macrons Kaltblütigkeit besessen und wären Stunden nach der Veröffentlichung des Mitschnitts vor die Presse getreten, um eiskalt lächelnd zu lügen, es habe eine solche Besprechung nie gegeben.

    Stellen wir uns weiter vor, sie hätten auch nie versucht, den Mitschnitt aus dem Internet zu entfernen, sondern sich stattdessen darüber lustig gemacht. Ohne hochsensible Details über das Zustandekommen des Mitschnitts öffentlich zu machen, wären Außenminister Lawrow und seine TV-Chefpropagandistin nicht in der Lage, das Gegenteil zu beweisen. Was Juristen die Beweislast nennen, würde dann von der Bundesregierung auf die russische Regierung verlagert: Sie wäre wochenlang damit beschäftigt gewesen, die Authenzität des Mitschnitts zu beweisen, ohne dabei offenzulegen, wie sie darangekommen ist. Und dann müsste sie noch hoffen, dass man ihr auch glaubt. Es war ja nicht das Verhalten der Russen, das der deutschen Öffentlichkeit zeigte, dass das Gespräch der Generäle so stattgefunden hat, sondern das Verhalten derer, die daran teilnahmen.

    Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und sich vorstellen, Pistorius hätte nicht behauptet, die mitgeschnittene Besprechung habe gar nicht stattgefunden, sondern sie sei absichtlich aufgezeichnet und geleakt worden, um Lawrow eine Falle zu stellen oder einen Maulwurf in der Bundeswehr aufzudecken. Dann wären die besten IT-Spezialisten der Welt nicht mehr in der Lage gewesen, nachzuweisen, ob die Moskauer Aufzeichnung echt oder falsch ist.

    Denn das, was solche Informationen glaubwürdig oder unglaubwürdig macht, sind nicht die Metadaten in der Videodatei, sondern das, was sich im Kopf derer abspielt, die sie sehen. In Hillary Clintons Wahlkampf war das Signal, das die Öffentlichkeit erreichte: „Hillary war unvorsichtig und wurde von Hackern reingelegt.“ Und jeder wollte die geleakten Nachrichten unbedingt lesen. Als Macrons Wahlkampfstab den russischen Hackern eine lange Nase drehte, lautete das Signal an die französische Öffentlichkeit: „Da ist nichts dran. Macron hat die Hacker reingelegt.“ Und niemand interessierte sich mehr für das Gehackte selbst.

    Die Deutschen wissen nicht, dass sie im Krieg sind

    Man kann die Regeln, die daraus folgen, sogar auf das gesamte Geheimdienstwesen übertragen. Sie lauten dann: Erstens, es spielt keine große Rolle, was die russischen Geheimdienste alles über die Bundesrepublik erfahren. Im Grunde genommen können wir ihnen alles auf dem Servierteller präsentieren – Hauptsache, wir sorgen gleichzeitig dafür, dass sie es nicht glauben.

    Zweitens, wir haben bisher viel zu viel darüber geredet, wie man Leaks verhindert. Das geht ohnehin nur begrenzt, denn es beruht auf einem ständigen Wettlauf mit den Hackern, der dem Rüstungswettlauf nicht unähnlich ist. Wir haben überhaupt nicht darüber geredet, wie man mit sicherheitsrelevanten Datenleaks umgeht und Schaden begrenzt – oder sie gegen die Täter einsetzt. Das ist eigentlich auch mehr ein Job für Psychologen als für IT-Spezialisten.

    Für solche Manöver braucht man starke Nerven, viel Kaltblütigkeit und eine eiserne Disziplin. Es ist schwer, eine entsprechende Absprache unter hundert Menschen zu treffen, die an einem Geheimtreffen teilgenommen haben. Werden die von Medienvertretern abgefragt, bricht so eine Schweige- oder Lügenfront schnell auf. Nur: An der Taurus-Affäre waren gerade einmal vier Generäle beteiligt – aber das Verteidigungsministerium ließ sich trotzdem ins Bockshorn jagen.

    Es gibt da noch ein Problem, das viel wichtiger ist als die Logistik von überzeugenden Dementis. Für so eine Aktion muss man ungefähr so überzeugend lügen, wie jemand, für den es dabei um Tod oder Leben geht. Menschen im Krieg verhalten sich so. Aber Deutschland ist nicht im Krieg. Oder besser gesagt: Es weiß nicht, dass es im Krieg ist und will es auch gar nicht wahrhaben. Das gilt sogar für die vier Generäle, die diesen Krieg führen.

    Die Bundesrepublik ist im Krieg

    Wie wenig die Bundesrepublik, ihre Politiker, Medien und Bürger das wahr haben will, konnte man in den vergangenen Tagen beobachten. Als Erstes trat Bundeskanzler Olaf Scholz vor die Presse, vor dem geradezu majestätischen Hintergrund der Vatikanstadt und obwohl man auf Auslandsreisen (und bei Privataudienzen beim Papst) ja normalerweise keine Innenpolitik kommentiert. Er fand die Sache „sehr ernst“. Pistorius schwieg erst einmal, bis die Spekulationen zu sehr ins Kraut schossen: Darüber, ob bei der Besprechung Geheimnisse über andere Bündnispartner ausgeplaudert worden waren, darüber, ob man nun Taurus mit oder ohne Bundeswehrsoldaten in die Ukraine liefern kann und soll. Darüber, ob Scholz vielleicht die Opposition und das Parlament an der Nase herumgeführt hat und die Generäle am Parlament vorbei Soldaten in die Ukraine schicken wollten oder sogar den Kriegseintritt Deutschlands vorbereitet hatten.

    Alle reagierten genauso, wie die Demokraten nach den Clinton-Leaks – und sorgten so dafür, dass alle den Mitschnitt für authentisch hielten. Schließlich trat Pistorius dann doch vor die Medien und sagte: „Die Offiziere haben das getan, wofür sie da sind.“ Sie seien sich „zu jedem Moment der Besprechung“ im Klaren gewesen, dass „die Linie einer Kriegsbeteiligung nicht überschritten wird“. Spätestens da war klar: Der Mitschnitt ist echt.

    Inhaltlich kann ich Pistorius da nur recht geben: Weder die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern noch die Entsendung von Soldaten in die Ukraine machen Deutschland zu einer Kriegspartei. Das ist Deutschland nämlich schon seit zwei Jahren. Wer daran zweifelt, möge die Urteile des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag zu Nicaragua gegen die USA und Uganda gegen die Demokratische Republik Kongo nachlesen. Das ist keine leichte Lektüre, die Richter in Den Haag machen es ihren Lesern selten leicht. Sie reden auch nicht von Kriegsparteien, denn so etwas gibt’s nicht im Völkerrecht. Sie reden stattdessen von Gewaltanwendung gegen andere Staaten.

    Die ist nach der UN-Charta grundsätzlich verboten – einzige Ausnahme: individuelle und kollektive Verteidigung bei einem Angriff. Die Latte, die die Richter gelegt haben, um zu definieren, ab wann eine solche Gewaltanwendung stattfindet, liegt viel, viel niedriger als unsere öffentliche Debatte, unsere Medien und unsere Politiker uns glauben machen wollen. Sie beginnt nicht erst beim Entsenden von Soldaten, sondern bereits bei der Ausbildung fremder Kämpfer an Waffen auf eigenem Territorium, bei der Lieferung von Waffen und der Finanzierung von Waffenkäufen einer Kriegspartei.

    Das alles taten die USA in Nikaragua, indem sie dort Guerillas ausbildeten, ausrüsteten und zurück über die Grenze schickten. Auch Uganda tat das (und tut es bis heute) in der Demokratischen Republik Kongo. Weder die USA noch Uganda haben dabei eigene Soldaten über die Grenze geschickt. Und trotzdem wurden beide wegen „Gewaltanwendung gegen einen anderen Staat“ verurteilt. Aber keine Sorge: Deutschland würde dafür nicht verurteilt. Uganda und die USA taten das nämlich gegen den Willen einer international anerkannten Regierung, die weder gegen Washington noch gegen Kampala Gewalt angewendet hatte.

    Deutschland und die anderen westlichen Staaten tun das auf ausdrücklichen Wunsch der international anerkannten ukrainischen Regierung. Sie könnten nach geltendem Völkerrecht auch viel weiter gehen, oder, wie das hierzulande immer heißt: eskalieren. Sie dürfen auf Wunsch der ukrainischen Regierung auch Soldaten in die Ukraine schicken – das wäre dann als kollektive Verteidigung eines Angegriffenen von der UN-Charta gedeckt. Diese Soldaten sollten möglichst nicht in Zivil kommen, sondern offen Waffen und Uniformen tragen – denn nur dann kommen sie als Kombattanten in den Genuss der Genfer Konventionen, falls sie verwundet und gefangen genommen werden oder sich ergeben.

    Vor diesem Hintergrund erscheint Präsident Macrons Vorschlag, die Entsendung von Nato-Truppen in die Ukraine nicht von vorneherein auszuschließen, vielleicht etwas weniger haarsträubend. Den vielen X- und Facebook-Usern, die in dem von Moskau geleakten Mitschnitt den Beweis dafür sehen, dass Pistorius und seine Generäle einen illegalen Angriffskrieg planen und dem Berliner AfD-Abgeordneten Gunnar Lindemann, der deshalb Strafanzeige stellte, kann ich nur raten, ins Badezimmer zu gehen und sich einer kurzen Ice-Bucket-Challenge zu unterziehen. Denn völkerrechtlich wäre es vollkommen legal, wenn die Bundesrepublik aus der Ukraine heraus und mit Zustimmung der ukrainischen Regierung mit einigen Taurus-Marschflugkörpern die Krim-Brücke, den Kreml und das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte dem Erdboden gleichmachte.

    Das sind nach humanitärem Völkerrecht und internationalem Völkerstrafrecht vollkommen legitime militärische Ziele, weil sie eine militärische Bedeutung haben, etwa so wie Kasernen, Kommandozentralen und Waffenfabriken. Boris Pistorius und seine Generäle dürfen keine russischen Wohnblocks, Krankenhäuser und Menschenansammlungen aufs Korn nehmen. Das wäre immer noch kein illegaler Angriffskrieg, sondern ein Kriegsverbrechen im Rahmen kollektiver Verteidigung.

    Kriegsverbrechen kann man nämlich auch begehen, wenn man sich nur verteidigt; nichts zeigt das besser als Israels Kriegsführung im Gaza-Streifen. Durch einen solchen Angriff würde Deutschland auch nicht zur Kriegspartei, denn das ist es, wie erwähnt, schon lange. Etwas anderes würde wahrscheinlich passieren: Deutschland würde zum Schlachtfeld, denn Russland würde uns das mit Sicherheit heimzahlen.

    Das ist der wahre Einsatz, um den Scholz, Pistorius, aber auch Biden und Macron eigentlich spielen: Sie wollen, dass sich der Krieg nur in der Ukraine abspielt und nicht ausufert auf Nato-Gebiet. Das, so scheint es, will Russland vorerst auch. Aber das ist Geopolitik und Kriegsstrategie, mit dem Völkerrecht hat das nichts zu tun. Vieles, was völkerrechtlich erlaubt ist, ist politisch nicht sinnvoll und nicht alles, was politisch sinnvoll wäre, ist völkerrechtlich auch erlaubt.

    Die Bundesrepublik will aber nicht im Krieg sein

    Vor diesem Hintergrund sind wir seit über zwei Jahren Versuchskaninchen bei einem sozialpsychologischen Experiment, dessen Ziel es ist, uns zu überzeugen, dass wir, obwohl wir gegen Russland völkerrechtlich Gewalt anwenden und am Krieg direkt beteiligt sind, wir doch eigentlich mit diesem Krieg nicht das Geringste zu tun haben. Wir verhalten uns auch überhaupt nicht wie ein Land, das Krieg führt oder im Krieg ist. Unsere kritische Infrastruktur wird nicht bewacht, linksradikale Amateure können unsere Stromversorgung lahmlegen und Saboteure können – und das passiert ungefähr 2000 Mal pro Jahr – Bahngleise und Oberleitungen beschädigen. Das ist in Ordnung in Friedenszeiten; da kann man nicht an jedem Strommast eine Bürgermiliz postieren. In Kriegszeiten ist solcher Leichtsinn eine Einladung für Saboteure, die so dafür sorgen, dass weniger deutsche Truppen ins Ausland verlegt werden können, weil sie zum Schutz der Infrastruktur im Land benötigt werden.

    Wie tief der deutsche Vogel Strauß mit dem Kopf im Friedenssand steckt, kann jeder selbst relativ einfach herausfinden: Wissen Sie, wo der für ihre Wohnung und ihren Arbeitsplatz am schnellsten erreichbare Luftschutzraum ist? Wissen Sie etwas über seinen Zustand? Wissen Sie, was Sie tun müssen, wenn Sie ihn nicht erreichen oder er bereits voll ist? Die einzige Notfall-App, die bisher entwickelt wurde, war eine Reaktion auf die Überschwemmung im Ahr-Tal, nicht auf den Krieg in der Ukraine. Sie warnt jetzt anstelle der Sirenen und Kirchenglocken, die das früher taten (wenn sie funktionierten) vor Katastrophen – vor Luftangriffen warnt sie nicht.

    Sogar der freiwillige Heimatschutz, über den jährlich gerade mal ein Tausend Soldaten angeworben werden sollen, stammt aus dem Jahr 2011 und ist keine Reaktion auf den Krieg. Statt der erhofften 1000 Rekruten pro Jahr sind es bisher aber nur ein paar Hundert gewesen.

    Die polnische Regierung führte 2017 eine Territorialverteidigung ein, die jetzt knapp 40.000 Bewaffnete umfasst, zusätzlich zur Armee. Gedacht war sie ursprünglich als eine Art Parteiarmee zur Bekämpfung innerer Unruhen (damals regierte noch die PiS-Partei), aber heute könnte Polen sie auch als Bürgermiliz zur Bewachung kritischer Infrastruktur einsetzen.

    Es gibt Leute, die glauben, das sogenannte Sondervermögen für die Bundeswehr sei gewissermaßen die fleischgewordene Zeitenwende und der Beweis für den Ernst der Lage. Weit gefehlt. Dieser Sonderschuldenfonds entstand anstelle der Zeitenwende und damit Otto-Normalverbraucher weiter so normal verbrauchen kann, als sei er gar nicht im Krieg. Nichts soll sich verändern. Ein Land, das wegen eines Gebäudeenergiegesetzes und einem Streit über die Details von Bezahlkarten für Asylsuchende in Wallung gerät, kann man unmöglich mit der Nachricht schockieren, es sei im Krieg. Und so läuft seit zwei Jahren die Operation Wiegelied: Unser Kanzler, unsere Verteidigungsminister, unsere Innenministerin und sogar unsere Generäle singen uns in den Schlaf mit einer Melodie, der zufolge der Krieg ganz, ganz weit weg ist, ganz, ganz sicher nie zu uns kommt und nach der sie alles vollkommen im Griff haben und alles, aber auch ganz und gar alles tun, was in ihrer Macht steht (also nicht besonders viel), damit der Krieg da bleibt, wo er ist.
    Vom Hindukusch an die Krim

    Das Erstaunlichste an der ganzen Geschichte ist, dass sie uns nun schon zum wiederholten Male widerfährt. Die Bundesrepublik hat schon einmal einen Krieg geführt, den sie nicht wahrhaben wollte und als „Stabilisierungs- und Demokratisierungskampagne“ verniedlicht hat. Das war in Afghanistan. Damals machten uns die aufeinanderfolgenden Regierungen des Friedenskanzlers Gerhard Schröder und Angela Merkels weis, die Bundeswehr würde da nur Brunnen und Schulen bauen und Mädchen auf dem Schulweg bewachen, während sie in Wirklichkeit Krieg gegen die Taliban (und den sie unterstützenden Teil der afghanischen Bevölkerung) führte, Tanklaster bombardierte und eine hochkorrupte, instabile und bei weiten Teilen der Bevölkerung verhasste Regierung stützte.

    Es kam, wie es kommen musste: Nach 20 Jahren verlor die Bundeswehr einen Krieg, den sie angeblich nie geführt hatte und mit dem zuhause niemand etwas zu tun haben wollte. So läuft es jetzt schon seit zwei Jahren, oder, wie manche meinen, auch schon seit zehn Jahren, denn so lange ist Russland ja im Krieg mit der Ukraine. Muss es so weitergehen?

    Der Bevölkerung den Krieg erklären

    Es gibt keinen Grund, warum Olaf Scholz, die Bundesregierung oder der Bundestag Russland den Krieg erklären sollten. Russland hat der Ukraine bis heute keinen Krieg erklärt; die Zeiten, als man Diplomaten abzog, sich den Fehdehandschuh hinwarf und die Truppen in Bewegung setzte, sind vorbei. Darum geht es nicht mehr. Jetzt geht es darum, der bundesdeutschen Bevölkerung den Krieg zu erklären – ihr zu erklären, dass sie im Krieg ist, warum sie im Krieg ist und vor allem: was das bedeutet.

    Es bedeutet eine Umstellung der gesamten Wirtschaft auf Rüstungsproduktion, damit wir die Munition, die wir der Ukraine versprochen haben, auch liefern können. Es bedeutet die Wiedereinführung der Wehrpflicht und eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts. Es bedeutet, um es in der Sprache von Linker, AfD und Sahra Wagenknecht auszudrücken, mehr Kriegswarnungen im öffentlichen Raum und ein gesundes Maß an Vorsicht beim Schutz von kritischer Infrastruktur, der Einführung von flächendeckenden Erste-Hilfe-Kursen und eines Zivilschutzkonzepts. Das Problem dabei: Das tut weh. Es verursacht mehr Schmerzen als Robert Habecks Gebäudeenergiegesetz, ein Tempolimit auf der Autobahn und die Einführung eines fleischfreien Freitags zusammengenommen.

    Deshalb gilt auch in diesem Fall das alte Gesetz politischen Nicht-Handelns: Wenn die Kosten und die Anstrengungen zur Abwendung einer Gefahr zu hoch sind, wird die Gefahr einfach heruntergespielt. Jeder tut das, nicht nur unsere Politiker, obwohl wir die dann für die Folgen verantwortlich machen. Jetzt sind es aber zum großen Teil sie selbst, die das tun. Angefangen von denen, die behaupten, Deutschland sei gar keine Kriegspartei, bis zu denen, die einfach behaupten, Russland führe gar keinen Krieg gegen die Ukraine, sondern verteidige sich selbst gegen die Nato (was ja erst recht bedeutet, dass die Nato Kriegspartei ist) oder werde ganz bestimmt die Nato und die Bundesrepublik nie und nimmer angreifen.

    In diesem speziellen Fall sollte das unsere Politiker nicht davon abhalten, uns reinen Wein einzuschenken und sich selbst zu wappnen, zum Beispiel durch einen permanenten Krisenstab im Kanzleramt, der im Krisenfall alle Beteiligte auf eine gemeinsame Haltung einschwört, mit der sich der Schaden begrenzen oder die Affäre zum eigenen Nutzen drehen lässt. Was geschieht, wenn man das nicht tut, hat uns Hillary Clintons Präsidentschaftskandidatur vor Augen geführt: Man verliert die Wahlen und die Macht.

    Natürlich heißt das auch, dass unsere Politiker uns dann in manchen Fällen öffentlich und kaltblütig belügen müssten. Einerseits ist das natürlich in einer Demokratie ganz und gar undenkbar. Zumindest in Friedenszeiten. Andererseits hat das Emmanuel Macron 2017 ja auch getan – noch vor der russischen Invasion in der Ukraine. Wobei ich mir jetzt gar nicht so sicher bin, ob und wann genau er damals gelogen hat. Vielleicht hat sein Team die Hacker ja gar nicht mit falschen Informationen gefüttert, sondern hat das hinterher nur behauptet. Nach der gewonnenen Wahl hat das ohnehin niemanden mehr interessiert.